Samstag, 9. Oktober 2010

Leonie

Eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 2008
Du bist schön, Leonie. Dein Lächeln ist sanft, deine blauen Augen sind voller Leben und deine braunen, gewellten Haare glänzen. Wenn du jemanden ansiehst, dann siehst du ihn auch. Wenn du jemandem zuhörst, dann hörst du ihm auch zu. Wenn jemand deine Hand hält, erwiderst du den Händedruck.

Dein Lächeln kann strahlen, wie kaum etwas anderes, Leonie. Schlechte Laune oder böse Gedanken sind in deiner Umgebung gar nicht möglich, denn man ist gezwungen, sich bei dir anzustecken. Du bist die Ruhe, die über allem liegt und Aufregung gibt es nur selten bei dir. Aus deinem Blick kann man herauslesen, was du denkst und du denkst immer nur Gutes.

Deine Kinder lieben dich. Sie lieben dich, weil sie dich kennen. Du warst immer liebevoll zu ihnen und die seltene Strenge konnten sie nachvollziehen. Allein, wenn deine Augen Enttäuschung ausdrückten, hatten die Kinder Angst, dass du sie nicht mehr lieb haben könntest. So erwuchs Gehorsamkeit aus Liebe. Sie sind in der Schule und lernen etwas. Du hast tolle Kinder.

Dein Mann, Markus, lässt dich grüßen, Leonie. Er konnte nicht kommen, aber auch er liebt dich. Sein Herz ist leer, seit du nicht da bist. Er vermisst dein Lächeln, seit du es nicht mehr ausstrahlst. Er hat Angst, dass er dich verliert. Er hat Angst, dass sich seine Liebe zu dir ändern könnte.

Mach die Augen auf, Leonie. Du hast lange genug geschlafen.
Wir vermissen dich.

Raphael sitzt an deinem Bett, Leonie. Schon den ganzen Vormittag. Er ist so jung und doch schon so ein hübscher Knabe. Seine blonden Haare werden schon wieder länger und er hat sich einen Scheitel gezogen. Die Sommersprossen auf seiner Nase gleichen deinen.

Er sitzt da und zeichnet. Ich glaube, er zeichnet seine Familie. Markus ist darauf zu sehen und er steht da wie ein Baum, breit und stämmig. Du stehst daneben, kleiner, zierlicher, mit einem breiten Lächeln im Gesicht und den blausten Augen, die ich je gesehen habe. Raphael zeichnet sich selbst vor dich und du hast einen Arm um ihn gelegt. Seine kleine Schwester Maria hält er an der Hand und sein größerer Bruder steht neben seinem Vater.

Sie vermissen dich, Leonie. Du solltest die Augen aufschlagen und ihnen Hallo sagen, aber du kannst nicht. Dass ein Tag so viele Leben verändern kann...

Jetzt hat der kleine Raphael auch seine große Schwester gemalt, in einem hübschen, weißen Umstandskleid mit ihrem Babybauch. Er mag Sirinah, er hat ihr ein Lächeln gezeichnet. Im Gegensatz zu Ludwig. Der lächelt nicht, er steht nur neben seinem Vater. Raphael hat ihm die schwarzen Haare über die Augen gemalt.

Ludwig kommt immer dann vorbei, wenn er denkt, dass niemand hier ist, Leonie. Er besucht dich stets als letzter, doch er vermisst dich genauso, wie alle anderen. Seine Seele ist wohl doch nicht so schwarz, wie seine Kleidung. Er sitzt immer hier, neben dir auf dem Bett, und sieht dich an. Weiter tut er nichts, er sieht dich nur an. Und er hält dir die Hand, hofft, dass du sie mal wieder drücken könntest, aber das tust du nicht. Am Ende der Besuchszeit muss er dich verlassen und dann geht er widerwillig und wirft stets einen einzigen, sehnsüchtigen Blick zu dir zurück, bevor die Tür zufällt.

Manchmal braucht es ein Bild, um Gefühle auszudrücken und Raphael kann es so eben am besten. Er pinnt seine Zeichnung über deinem Kopf an die Wand, fasst kurz deine Hand an, sieht dich mit seinem winzigen Lächeln an und geht dann hinaus. Er macht das immer so, doch nicht immer zeichnet er ein Bild.
Dieses Familienportrait ist ausdrucksstark. Deinen Kopf hat er mit einem Herz umkreist, Leonie. Er hat dich lieb.

Heute sitzt Markus an deiner Seite. Ich weiß, dir missfällt der Gedanke des Unglücklichseins, aber Markus kann sich nicht helfen. Wenn er hier so hilflos an deiner Seite sitzt und du kannst dich nicht rühren, kannst nicht einmal die Augen aufschlagen...
Du kannst es ihm nicht übel nehmen, wenn ihm manchmal die Tränen kommen, Leonie. Er braucht dich und er liebt dich und er hat Angst, dass er dir nie wieder in die Augen sehen kann. Dass er nie wieder deine liebevolle Umarmung spüren kann. Dass du nie wieder das Wort an ihn richtest.

Die Zeit vergeht und sie zeichnet ihn und dich. Die anfänglich kaum vorhandenen Falten werden tiefer, die Haare grauer und die Knochen poröser. Nicht viel, aber genug, um es zu bemerken.

Sirinah kommt ab und an zu Besuch, mit ihrem Ehemann Florian und der kleinen Tochter, die Sirinah vor ein paar Wochen geboren hat. Leonie haben sie sie getauft, nach dir. Sie ist ein ruhiges Kind und die beiden sind liebevolle, junge Eltern.

Der einzige, dem das alles recht egal zu sein scheint, ist Ludwig. Ihn kümmert es nicht, was seine Geschwister treiben oder was sein Vater sagt. Es ist ihm egal. Nach außen hin.
In seinem Innern lodert es. Er bleibt jetzt viel öfter in seinem Zimmer und er ist viel öfter alleine, manchmal hört er Musik, ruhige Balladen, eine depressive Mischung.
Ich glaube, es geht ihm nicht gut, aber sein Vater bemerkt es nicht. Er ist viel zu beschäftig damit, dich nicht aus seinen Gedanken zu drängen. Dich nicht zu verlieren im Geiste und in der Liebe. Seine Kinder bemerkt er kaum und doch vergisst er auch sie nicht. Es ist schwierig für ihn, so ganz allein, Leonie.

Du solltest die Augen öffnen und sehen. Du solltest die Augen öffnen und deinen Kindern den rechten Weg weisen. Dein Inneres ist aufgewühlt, aber du schaffst es einfach nicht, das nach außen zu tragen.

Und dann – eines Tages – öffnen sich deine Augen. Sie blicken an die Decke und versuchen zu sehen.
Du bist wieder da, doch alles ist anders.

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