Samstag, 9. Oktober 2010

Lauf

Eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 2010
Ich halte die winzigen, knubbeligen Hände vorsichtig. Sie packen mit einiger Kraft zu und der zugehörige Körper wackelt unsicher vor und zurück. Ich lächle meinem kleinen Knirps aufmunternd zu und er rümpft die Nase und quietscht, was für mich schon immer ein Lachen war.
Auf einmal sieht er sich hektisch um. Er hat gehört, wie irgendwo im Haus eine Haustür zugeknallt wurde – bestimmt wieder die alte Schachtel von drüben, die keine Rücksicht nimmt.
„Papa?“, quietscht mein Knirps aufgeregt und hoppst auf und ab, ohne meine Hände loszulassen. „Papa?“
Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter und ich muss mich beherrschen, um ruhig zu bleiben. Ich streichle vorsichtig die winzigen Finger und sage mit einem leichten Zittern in der Stimme: „Papa kommt nicht mehr, Chris, Papa kommt nie wieder her.“
Chris starrt mich mit seinen großen Augen an, die er ganz eindeutig von seinem Papa hat. Er versteht mich nicht, aber er versteht, dass das nicht Papa war.
Er macht ein quengelndes Gesicht und lässt sich auf den Hosenboden plumpsen, meine Hände schon nicht mehr anfassen wollend. Seufzend lasse ich los, fahre mir kurz über die Augen und versuche, nicht zu verzweifeln.
Chris wippt leicht herum und sieht sich nach irgendetwas herum, während er leise Schmatzlaute ausstößt. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er seine ersten eigenständigen Schritte getan, aber seit Albert – sein Vater – nicht mehr da war, hatte er darauf irgendwie keine Lust mehr. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ich an Albert denken muss. Ich vermisse ihn so sehr.

Chris rast in einer irrsinnigen Geschwindigkeit krabbelnd durch die Wohnung und versteckt sich glucksend unter der Eckbank. Schon wieder ist ein Monat vorbeigezogen, ohne dass er auch nur einen Schritt tun wollte und ich wusste mir langsam nicht mehr zu helfen. Wie brachte man ein Kind, das so auf seinen männlichen Bezugspartner fixiert war, dazu, herumzulaufen? Er konnte es doch, warum tat er es dann nicht?
Ich bückte mich und tat als würde ich ihn nicht sehen, als er sich glucksend hinter einem Bein der Eckbank versteckte.
„Ja, wo ist denn Chris?“, fragte ich erstaunt. „War er nicht gerade noch hier, in diesem Zimmer?“
Ich richte mich wieder auf und schaue bewusst lange in Richtung Wohnzimmer, damit er sich krabbelnder Weise ins Schlafzimmer verdrücken kann.
„Hab ich mich vielleicht geirrt?“, frage ich, jetzt ganz neugierig. Ich gehe langsam in Richtung Schlafzimmer während ich weiterrede. „Ist er vielleicht im Schlafzimmer?“
Ich drücke die Schlafzimmertüre ganz auf, mit der Erwartung, dass er irgendwo kauern und kichern würde. Jetzt saß er allerdings völlig geistesabwesend auf seinen vier Buchstaben und starrte meine Fotowand an, während er Speichelfäden sabberte. Auf einmal bemerkt er mich und deutet mit einem schwer deutbaren Ausdruck in den großen Augen auf ein Foto. Albert.
„Papa“, sagt Chris und sieht mich wieder an. Mein Herz zieht sich wieder zusammen, während ich meinem Knirps in die Augen sehe. Ich nehme kurz entschlossen das Bild von der Wand und lege mich neben ihn, sodass wir auf Augenhöhe sind. Dann stelle ich das Bild vor ihn hin.
Chris‘ Finger stupsen vorsichtig gegen das Glas des Fotorahmens und dann fährt er langsam das schwarze Band nach, das die linke untere Ecke ziert. Er sieht kurz zu mir rüber, als müsse er sich versichern, dass ich noch da war und ich schaffte es nicht, die Tränen rechtzeitig wegzuwischen. Chris sah wieder auf das Bild, wippte leicht vor und zurück, als müsse er gerade eine Entscheidung abwägen und dann packte er das Bild fester in seine winzigen Hände und stand schwerfällig auf, bis er von selbst auf seinen zwei wackeligen Beinen stand.
Seit dem Tag fragte er nie wieder nach Albert.

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