Sonntag, 10. Oktober 2010

NaNo 2009 (Part 1)

Ein kleiner, sehr kleiner Ausschnitt aus meinem letztjährigen NaNo-Novel

„Du hast gesagt, dass du erst vor ein paar Wochen hergezogen bist und dich deswegen hier nicht so gut auskennst. Vor allem nicht betrunken“ [...]
„Ja, das sag ich eigentlich immer, wenn ich nicht zu mir nach Hause will, weil mein Mitbewohner mal wieder unsere Wohnung demoliert hat“, gab er zurück und schloss die Augen wieder.
„Ist er ein Messie?“
„Er ist ein Psychopath, das läuft aufs selbe hinaus“, sagte Ben unbekümmert.
 Ah, grausame Welt des NaNoWriMo! Das war erst das zweite Kapitel aber so gespickt mit wirklich unschönen Fehlern, dass ich mich noch beim dritten und vierten Mal durchlesen frage, wie ich so etwas nur jemals schreiben konnte. Aber wie heißt es doch so schön? Aus Fehlern lernt man. Und das habe ich ja wohl hoffentlich...

Samstag, 9. Oktober 2010

Leonie

Eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 2008
Du bist schön, Leonie. Dein Lächeln ist sanft, deine blauen Augen sind voller Leben und deine braunen, gewellten Haare glänzen. Wenn du jemanden ansiehst, dann siehst du ihn auch. Wenn du jemandem zuhörst, dann hörst du ihm auch zu. Wenn jemand deine Hand hält, erwiderst du den Händedruck.

Dein Lächeln kann strahlen, wie kaum etwas anderes, Leonie. Schlechte Laune oder böse Gedanken sind in deiner Umgebung gar nicht möglich, denn man ist gezwungen, sich bei dir anzustecken. Du bist die Ruhe, die über allem liegt und Aufregung gibt es nur selten bei dir. Aus deinem Blick kann man herauslesen, was du denkst und du denkst immer nur Gutes.

Deine Kinder lieben dich. Sie lieben dich, weil sie dich kennen. Du warst immer liebevoll zu ihnen und die seltene Strenge konnten sie nachvollziehen. Allein, wenn deine Augen Enttäuschung ausdrückten, hatten die Kinder Angst, dass du sie nicht mehr lieb haben könntest. So erwuchs Gehorsamkeit aus Liebe. Sie sind in der Schule und lernen etwas. Du hast tolle Kinder.

Dein Mann, Markus, lässt dich grüßen, Leonie. Er konnte nicht kommen, aber auch er liebt dich. Sein Herz ist leer, seit du nicht da bist. Er vermisst dein Lächeln, seit du es nicht mehr ausstrahlst. Er hat Angst, dass er dich verliert. Er hat Angst, dass sich seine Liebe zu dir ändern könnte.

Mach die Augen auf, Leonie. Du hast lange genug geschlafen.
Wir vermissen dich.

Raphael sitzt an deinem Bett, Leonie. Schon den ganzen Vormittag. Er ist so jung und doch schon so ein hübscher Knabe. Seine blonden Haare werden schon wieder länger und er hat sich einen Scheitel gezogen. Die Sommersprossen auf seiner Nase gleichen deinen.

Er sitzt da und zeichnet. Ich glaube, er zeichnet seine Familie. Markus ist darauf zu sehen und er steht da wie ein Baum, breit und stämmig. Du stehst daneben, kleiner, zierlicher, mit einem breiten Lächeln im Gesicht und den blausten Augen, die ich je gesehen habe. Raphael zeichnet sich selbst vor dich und du hast einen Arm um ihn gelegt. Seine kleine Schwester Maria hält er an der Hand und sein größerer Bruder steht neben seinem Vater.

Sie vermissen dich, Leonie. Du solltest die Augen aufschlagen und ihnen Hallo sagen, aber du kannst nicht. Dass ein Tag so viele Leben verändern kann...

Jetzt hat der kleine Raphael auch seine große Schwester gemalt, in einem hübschen, weißen Umstandskleid mit ihrem Babybauch. Er mag Sirinah, er hat ihr ein Lächeln gezeichnet. Im Gegensatz zu Ludwig. Der lächelt nicht, er steht nur neben seinem Vater. Raphael hat ihm die schwarzen Haare über die Augen gemalt.

Ludwig kommt immer dann vorbei, wenn er denkt, dass niemand hier ist, Leonie. Er besucht dich stets als letzter, doch er vermisst dich genauso, wie alle anderen. Seine Seele ist wohl doch nicht so schwarz, wie seine Kleidung. Er sitzt immer hier, neben dir auf dem Bett, und sieht dich an. Weiter tut er nichts, er sieht dich nur an. Und er hält dir die Hand, hofft, dass du sie mal wieder drücken könntest, aber das tust du nicht. Am Ende der Besuchszeit muss er dich verlassen und dann geht er widerwillig und wirft stets einen einzigen, sehnsüchtigen Blick zu dir zurück, bevor die Tür zufällt.

Manchmal braucht es ein Bild, um Gefühle auszudrücken und Raphael kann es so eben am besten. Er pinnt seine Zeichnung über deinem Kopf an die Wand, fasst kurz deine Hand an, sieht dich mit seinem winzigen Lächeln an und geht dann hinaus. Er macht das immer so, doch nicht immer zeichnet er ein Bild.
Dieses Familienportrait ist ausdrucksstark. Deinen Kopf hat er mit einem Herz umkreist, Leonie. Er hat dich lieb.

Heute sitzt Markus an deiner Seite. Ich weiß, dir missfällt der Gedanke des Unglücklichseins, aber Markus kann sich nicht helfen. Wenn er hier so hilflos an deiner Seite sitzt und du kannst dich nicht rühren, kannst nicht einmal die Augen aufschlagen...
Du kannst es ihm nicht übel nehmen, wenn ihm manchmal die Tränen kommen, Leonie. Er braucht dich und er liebt dich und er hat Angst, dass er dir nie wieder in die Augen sehen kann. Dass er nie wieder deine liebevolle Umarmung spüren kann. Dass du nie wieder das Wort an ihn richtest.

Die Zeit vergeht und sie zeichnet ihn und dich. Die anfänglich kaum vorhandenen Falten werden tiefer, die Haare grauer und die Knochen poröser. Nicht viel, aber genug, um es zu bemerken.

Sirinah kommt ab und an zu Besuch, mit ihrem Ehemann Florian und der kleinen Tochter, die Sirinah vor ein paar Wochen geboren hat. Leonie haben sie sie getauft, nach dir. Sie ist ein ruhiges Kind und die beiden sind liebevolle, junge Eltern.

Der einzige, dem das alles recht egal zu sein scheint, ist Ludwig. Ihn kümmert es nicht, was seine Geschwister treiben oder was sein Vater sagt. Es ist ihm egal. Nach außen hin.
In seinem Innern lodert es. Er bleibt jetzt viel öfter in seinem Zimmer und er ist viel öfter alleine, manchmal hört er Musik, ruhige Balladen, eine depressive Mischung.
Ich glaube, es geht ihm nicht gut, aber sein Vater bemerkt es nicht. Er ist viel zu beschäftig damit, dich nicht aus seinen Gedanken zu drängen. Dich nicht zu verlieren im Geiste und in der Liebe. Seine Kinder bemerkt er kaum und doch vergisst er auch sie nicht. Es ist schwierig für ihn, so ganz allein, Leonie.

Du solltest die Augen öffnen und sehen. Du solltest die Augen öffnen und deinen Kindern den rechten Weg weisen. Dein Inneres ist aufgewühlt, aber du schaffst es einfach nicht, das nach außen zu tragen.

Und dann – eines Tages – öffnen sich deine Augen. Sie blicken an die Decke und versuchen zu sehen.
Du bist wieder da, doch alles ist anders.

Die Brücke


Kurzgeschichte aus dem Jahr 2010
Ich sitze hier. Genau hier, über allem anderen. Über dem Schmerz.
Ich sitze auf dieser Brücke und lasse das Wasser unter mir an mir vorüberziehen. Ich sehe den ganzen Schmutz. Den Dreck. Er ist so trüb, dass man lediglich die eklig braune Oberfläche sehen kann. Der Fluss ist wie dieser Ort hier. Meine Beine baumeln vor und zurück und meine Hände halten das Geländer noch fester. Ich will ja nur schauen.

Als ich neun Jahre alt war, saß ich zum ersten Mal hier auf der Brücke. Damals war mein Vater mitgekommen und hatte mit mir hinuntergeschaut und gelacht. Der Fluss war damals noch nicht so dreckig gewesen und wenn man ganz genau hingesehen hat, dann hatte man sogar den ein oder anderen großen Fisch erspäht. Ich war ganz aufgeregt gewesen, als wir einen Fisch gesehen haben, der mehr als einen Meter lang und langsam mit dem Strom geschwommen war. Ich kam mir damals schon zu erwachsen vor, um aufgeregt auf und ab zu hüpfen, aber innerlich tat ich es. Mein Vater hatte mir das damals bestimmt angesehen, denn er hatte dieses vertraute Lächeln im Gesicht, als ich ihn kurz mit leuchtenden Augen ansah. Er hatte mir allerdings nur kurz die Haare zerwühlt und mich dann gefragt, ob wir etwas essen gehen sollten.
Ich hatte meinen Vater zu der Zeit ganz selten gesehen. Er war Vertreter für Büroartikel und seine Firma hatte ihn in die entlegensten Winkel der USA geschickt.
Jedes Mal, wenn er von einer längeren Reise zurückkam, hatte er mir etwas von den Orten mitgebracht, in denen er verweilt hatte. Meine Bücherregale standen voller Souvenirs von Orten, die ich nie in meinem Leben besucht hatte.
Manchmal hatte ich das Licht abends noch ein wenig angelassen, nachdem mir meine Mutter gesagt hatte, ich solle jetzt schlafen gehen, und hatte die kleinen Skulpturen angestarrt. Und bei jedem Objekt hab ich mir ausgedacht, wie der Ort aussehen musste, an dem so etwas verkauft wurde. Und überall war mein Vater.

Als ich dreizehn Jahre alt war, war ich das erste Mal verliebt. Sie hieß Emily und sie hatte die längsten Haare, die ich jemals bei einem Mädchen gesehen hatte. Sie glänzten braun, wenn die Sonne im richtigen Winkel auf sie schien. Ihre Augen sahen aus, als wären sie aus Gold gegossen.
Als ich sie das erste Mal sah, war es gerade einmal drei Uhr am Nachmittag und sie saß im Schatten einiger Bäume in der Nähe eines öffentlichen Spielplatzes. Ich war dort mit ein paar Klassenkameraden und unterhielt mich über irgendetwas Belangloses. Sie trug ein gelbes Kleid mit Margeriten auf ihm und lehnte an einem der Bäume, kaute auf einer Haarsträhne herum und hatte ein Buch auf den Knien liegen, in das sie tief versunken schien.
Ich sah das erste Mal auf, als ich ihr glockenhelles Lachen hörte. Sie lachte, geziert und vollkommen in ihre Welt versunken. Sie hielt sich beide Hände vor den Mund, als müsse sie ihr Lachen verstecken. Ich musste unwillkürlich Lächeln, als ich das sah.
Sie schien von ihrer Umwelt überhaupt nichts mitzubekommen und las mit leuchtenden Augen weiter. Es schien spannend zu sein. Ich hatte keine Ahnung von Büchern. Ich hatte nur dann welche gelesen, als man uns in der Schule dazu gezwungen hatte und da waren es strenge Bücher mit traurigen Jungen und Mädchen, denen irgendeine Tragödie widerfahren war. Ich kannte genug Tragödien, davon musste ich nicht auch noch lesen.
Das Mädchen aber schien sich prächtig zu amüsieren. Sie vergrub immer wieder ihr Gesicht in das Buch, drückte ihre Lippen auf einzelne Seiten oder Wörter. Ich hatte noch nie einen so begeisterten Menschen gesehen.
Als mich ein harter Schlag auf der Schulter traf, sah ich auf und hielt mir mit wütendem Gesicht die schmerzende Schulter.
„Was?“, fragte ich harsch und sah wütend denjenigen an, der mich geschlagen hatte.
„Magst du sie?“, fragte Oliver feixend. „Sie ist die Tochter meiner Nachbarin. Sie ist ziemlich nett.“
Ich warf einen Blick in die Runde der anderen und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich kannte einen aus meiner Klasse, der schon eine Freundin hatte. Ich warf wieder einen Blick hinüber zu der braunhaarigen Schönheit.
„Klar“, erwiderte ich so locker wie möglich. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
„Sie heißt Emily“, sagte Oliver. „Ich war schon ein paar Mal bei ihr. Ihr ganzes Zimmer ist voller Bücher und sie hat keine Puppen oder sowas.“
Ich nickte abwesend und warf wieder einen Blick zu ihr hinüber. Jetzt oder nie. Dann stand ich auf. Ich spürte die Blicke der anderen in meinem Rücken, als ich auf sie zumarschierte. Als ich ein paar Meter entfernt war, hörte ich den ein oder anderen lachen und Witze reißen. Egal, egal. Diese Jungs waren es nicht, die mich interessierten, Emily war es.
Keinen Meter von ihr entfernt blieb ich stehen. Sie bemerkte mich gar nicht, sondern lachte ganz leise in ihre Haarsträhne hinein. Ihre Nase rümpfte sich dabei leicht. Ich fühlte mich wie bezaubert.
„Hey“, sagte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Sie sah erschrocken mit großen Augen auf. Sie legte ihre schlanke Hand zwischen die Buchseiten und sah mich weiter an, als wüsste sie nicht, wo ich auf einmal hergekommen war und wie sie jetzt reagieren sollte.
„Ich bin Adam“, ergriff ich erneut das Wort und lächelte etwas nervös. Ich versuchte mich cool zu geben, aber das misslang kläglich. Ich hoffte darauf, dass die anderen das nicht sahen.
Emily schluckte nervös, sah sich schnell um und fand dann ihre Sprache wieder.
„Ich bin Emily“, sagte sie und ihre Stimme klang dabei, als wäre sie der Wind selbst. Leise und anschmiegsam. Ich musste unwillkürlich lächeln und ich konnte deutlich spüren, wie meine Wangen sich röteten. Schnell senkte ich den Kopf.
Sie aber schien es bemerkt zu haben, denn auch auf ihrem Gesicht zeigte sich jetzt wieder ein kleines Lächeln. Ich hörte sie leise hinter vorgehaltener Hand kichern. Ich beschloss, die Macht wieder an mich zu reißen.
„Was liest du denn da?“
Sie schien keine Angst mehr vor einem Gespräch mit mir zu haben, denn sie fing an mit mir zu spielen. Sie zog übertrieben die Augenbrauen hoch und sah mich mit ihren großen, goldenen Augen unschuldig an.
„Es interessiert dich wirklich?“, fragte sie und strich dabei vorsichtig mit den feingliedrigen Fingern über die Seiten des Buches.
„Ja“, gab ich ein bisschen herrischer zurück, als ich es beabsichtigt hatte. Sie schien sich nicht daran zu stören.
„Es ist ein Buch, das mir ganz alleine gehört. Niemand hat es jemals zuvor gelesen und niemand anders wird es je lesen“, sagte Emily und ich sah sie mehr wütend als verwirrt an.
„Wenn du nicht mit mir reden willst, dann sag das doch einfach“, erwiderte ich patzig und wollte mich schon herumdrehen. Emily allerdings sah mich erschrocken an und hielt mich zurück.
„Warte!“
Ich hielt inne und drehte mich zögerlich wieder herum. Sie hatte die Schultern ein wenig gestrafft und sich aufrechter hingesetzt.
„Mein Vater hat das Buch geschrieben. Er hat es nur für mich geschrieben und das hier ist das einzige Druckexemplar.“
Ich war neugierig geworden und setzte mich vor ihr ins Gras.
„Er hat es angefangen, als ich geboren wurde und er brauchte zehn volle Jahre, bis er den letzten Satz schrieb.“
„Ist dein Vater Autor?“, hakte ich neugierig nach. Sie sah auf die dünnen Seiten des Buches und wieder strichen ihre Finger darüber, als würde sie eine kleine Katze streicheln. Ganz vorsichtig. Sie schüttelte den Kopf.
„Er war es.“
Sie sah traurig auf, lächelte aber trotzdem.
„Er hat immer gesagt, dass er genau wisse, wann er sterbe. Und er hat es auch immer gewusst. Als das Buch fertig war, hat sich schlafen gelegt und ist nicht wieder aufgewacht.“
Wieder fuhren ihre Finger über die Buchseiten. Ich biss mir auf die Unterlippe und kroch dann auf Händen und Knien zu ihr hinüber, um mich genau neben sie zu setzen. Unsere Schultern berührten sich sachte und ich musste erst einmal meine Gedanken umordnen.
„Tut mir Leid.“
Sie seufzte und legte ihren Kopf auf meine Schulter.

Ein halbes Jahr später standen wir auf dieser Brücke. Sie schleckte ein Zitroneneis und lachte als sie zwei Enten sah, die sich auf dem Wasser beturtelten. Ich stand genau neben ihr, roch den Duft ihrer Haare, die im Wind leicht zerzaust wurden. Sie hatte nur Augen für die beiden Enten und ich hatte nur Augen für sie. Ihre Linke umklammerte das Geländer und sie beugte sich weit vor, um die Wasservögel weiter beobachten zu können.
„Schau nur, Adam!“, lachte sie und deutete mit dem Eis in der Hand auf die beiden.
Sie sah zu mir zurück und ich tat ihr den Gefallen hinunterzusehen. In die Kloake. Ihr fielen immer nur die positiven Seiten an all den Dingen auf. Ich sah nur den Dreck.
Als mein Blick wieder auf sie fiel sah ich, dass sie verträumt lächelte und ihr das Eis in der Waffel schmolz. Ihr Kleid heute war grün wie die Blätter dunkler Bäume.
„Willst du noch mit zu mir?“, fragte ich sie und riss sie damit aus ihrem Tagtraum. Sie leckte schnell an ihrem schmelzenden Eis und überlegte.
„Mein Vater ist wieder zuhause. Ich will, dass du ihn kennen lernst“, versuchte ich sie zu überreden.
„Meinst du, er will mich kennen lernen?“, fragte sie nach und ich nickte. Da konnte ja wohl keinen Zweifel bestehen. Ihre Wangen zierte ein zartes rosa und sie wippte auf und ab, als wäre sie mit einem Mal nervös.
„Ok“, sagte sie dann und straffte ihre Schultern. Sie sah aus, als würde sie sich selbst dazu zwingen, erwachsen zu sein. Ich grinste in mich hinein. Sie zerbiss ihre Waffel und warf einzelne Stücke davon hinunter in den Fluss, zu den Enten.
„Es muss schön sein, eine Ente zu sein, nicht wahr?“, sagte sie verträumt. Sie steckte sich das letzte Stück Waffel in den Mund und zerkaute sie genüsslich. Ihr Lächeln sah aus, als hätte sie gerade das köstlichste Mal verspeist, dass sie je vorgesetzt bekommen hatte.
„Enten können fliegen und schwimmen“, sagte sie, nachdem sie heruntergeschluckt hatte. „Und sie ziehen umher, immer in der Gruppe. Und sie finden jemanden, den sie wirklich mögen. Und bei dem bleiben sie.“
Sie drehte sich herum und stand auf einmal ganz dicht vor mir. Das Lächeln war von ihren Lippen verschwunden und ihre Augen waren kleiner als sonst. Ich roch sie so intensiv wie selten. Und als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, schaltete sich mein Verstand ab und ich kam ihr entgegen.
Mein erster Kuss. Auf dieser Brücke. Und er war unglaublich.

Ein Tag vor meinem sechzehnten Geburtstag fand ich mich wieder hier. Auf der Brücke mit dem morastigen Fluss. Heute ohne Enten.
Emily war bei mir. Sie lächelte nicht mehr so oft in letzter Zeit. Wenn ich in ihre Augen sah, dann sah ich es immer in ihr arbeiten. Als nage an ihr ein großes Problem, das sie nicht herauslassen wollte. Wenn ich sie danach fragte stritt sie es ab.
Heute hatten wir noch nicht gesprochen. Ich hatte sie abgeholt und wir waren einfach losgegangen. Als ich gerade das Wort ergreifen wollte, drehte sie sich ruckartig zu mir herum. Ich sah eine ernste Entschlossenheit in ihrem Gesicht stehen und wusste, dass ich es nicht hören wollte. Nicht heute und einfach niemals in meinem ganzen Leben.
Also schüttelte ich schnell den Kopf und hielt meinen Zeigefinger an meine Lippen. Sie wirkte verletzte. Ganz so, als hätte ich ihr meine Hand auf den Mund gepresst, damit kein Laut aus ihm hervordringt. Mein Herz zog sich zusammen.
Ich drehte mich um und ging, ohne mich noch einmal umzusehen. Manche Dinge wusste man einfach und sie musste nicht erklärt oder ausgesprochen werden. Sie waren wahr und niemand konnte etwas dagegen tun. Ich drehte mich nicht mehr zu ihr herum und hoffte im Stillen, dass es ihr genauso weh getan hatte mich so anzusehen, wie es mich jetzt schmerzte den Schrei zu unterdrücken.

Ich war zweiundzwanzig. An meiner Seite ging meine Mutter, das Haar hochgebunden. Ihr wohnte die Schönheit der Strenge inne.
Wie von selbst führten mich meine Schritte auf diese hässliche, alte Brücke. Ganz als würden mich bedeutsame Ereignisse mich immer hierher führen.
Ich lehnte mich an das Geländer und betrachtete eingehend den Boden. Mutter stellte sich neben mich und sah mich prüfend an. Ich hatte ihr nicht gesagt, weshalb ich sie sprechen wollte.
„Ich habe eine Entscheidung getroffen“, sagte ich, immer noch zum Boden, „Ich habe mich für zwei Jahre für die Armee verpflichtet.“
Ich wich ihren vorwurfsvollen Augen nicht aus und ich wusste genau, dass sie meine feste Entschlossenheit sehen konnte. Sie stellte mir auch nur eine Frage.
„Warum?“
Ich weiß es nicht.

Mein erster Tag zurück.
Sechsundzwanzig war ich heute, vier Jahre hatte ich mich bei der Armee förmlich versteckt. Hatte für mein Land gekämpft. Hatte mich von allen Freunden und Bekannten abgekapselt. Von meiner Familie.
Und heute war mein erster Tag zurück. Warum führt mich der Weg an solchen Tagen immer auf diese schreckliche Brücke?
Ich sah hinunter, über das Geländer und meine Hand war immer noch in das Geländer verkrampft. Dort unten schwammen zwei Enten und in meinem Hals bildete sich ein Klos.
Emily war tot.
Emily, die wunderschöne Emily. Ich hatte sie seit dem einen Tag vor meinem sechzehnten Geburtstag nicht mehr gesehen. Und das würde ich auch nie wieder.

Die Stadt

Eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 2010
Große Regentropfen prasseln auf den Teer.
Ich hasse diese Stadt. Überall diese Menschen, die einander nicht zuhören.
Die Regentropfen sind dreckig. Smog und Kerosin schwammen darin, das wusste ich.
Überall laufen Leute herum, die Handys fest ans Ohr gepresst und Laute in die Hörer stoßend. In jeder Sprache. Alle sahen anders aus, aber warum taten sie alles, um gleich auszusehen? Sie trugen alle Anzüge und Kostüme in einem schrecklich langweiligen grau – ohne einen Farbfleck.
Ich stand hier im Regen und genoss es. Auch wenn ich davon dreckig werden würde. Manchmal war Dreck das einzige, was mich von diesen Leuten unterschied.

Lauf

Eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 2010
Ich halte die winzigen, knubbeligen Hände vorsichtig. Sie packen mit einiger Kraft zu und der zugehörige Körper wackelt unsicher vor und zurück. Ich lächle meinem kleinen Knirps aufmunternd zu und er rümpft die Nase und quietscht, was für mich schon immer ein Lachen war.
Auf einmal sieht er sich hektisch um. Er hat gehört, wie irgendwo im Haus eine Haustür zugeknallt wurde – bestimmt wieder die alte Schachtel von drüben, die keine Rücksicht nimmt.
„Papa?“, quietscht mein Knirps aufgeregt und hoppst auf und ab, ohne meine Hände loszulassen. „Papa?“
Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter und ich muss mich beherrschen, um ruhig zu bleiben. Ich streichle vorsichtig die winzigen Finger und sage mit einem leichten Zittern in der Stimme: „Papa kommt nicht mehr, Chris, Papa kommt nie wieder her.“
Chris starrt mich mit seinen großen Augen an, die er ganz eindeutig von seinem Papa hat. Er versteht mich nicht, aber er versteht, dass das nicht Papa war.
Er macht ein quengelndes Gesicht und lässt sich auf den Hosenboden plumpsen, meine Hände schon nicht mehr anfassen wollend. Seufzend lasse ich los, fahre mir kurz über die Augen und versuche, nicht zu verzweifeln.
Chris wippt leicht herum und sieht sich nach irgendetwas herum, während er leise Schmatzlaute ausstößt. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er seine ersten eigenständigen Schritte getan, aber seit Albert – sein Vater – nicht mehr da war, hatte er darauf irgendwie keine Lust mehr. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ich an Albert denken muss. Ich vermisse ihn so sehr.

Chris rast in einer irrsinnigen Geschwindigkeit krabbelnd durch die Wohnung und versteckt sich glucksend unter der Eckbank. Schon wieder ist ein Monat vorbeigezogen, ohne dass er auch nur einen Schritt tun wollte und ich wusste mir langsam nicht mehr zu helfen. Wie brachte man ein Kind, das so auf seinen männlichen Bezugspartner fixiert war, dazu, herumzulaufen? Er konnte es doch, warum tat er es dann nicht?
Ich bückte mich und tat als würde ich ihn nicht sehen, als er sich glucksend hinter einem Bein der Eckbank versteckte.
„Ja, wo ist denn Chris?“, fragte ich erstaunt. „War er nicht gerade noch hier, in diesem Zimmer?“
Ich richte mich wieder auf und schaue bewusst lange in Richtung Wohnzimmer, damit er sich krabbelnder Weise ins Schlafzimmer verdrücken kann.
„Hab ich mich vielleicht geirrt?“, frage ich, jetzt ganz neugierig. Ich gehe langsam in Richtung Schlafzimmer während ich weiterrede. „Ist er vielleicht im Schlafzimmer?“
Ich drücke die Schlafzimmertüre ganz auf, mit der Erwartung, dass er irgendwo kauern und kichern würde. Jetzt saß er allerdings völlig geistesabwesend auf seinen vier Buchstaben und starrte meine Fotowand an, während er Speichelfäden sabberte. Auf einmal bemerkt er mich und deutet mit einem schwer deutbaren Ausdruck in den großen Augen auf ein Foto. Albert.
„Papa“, sagt Chris und sieht mich wieder an. Mein Herz zieht sich wieder zusammen, während ich meinem Knirps in die Augen sehe. Ich nehme kurz entschlossen das Bild von der Wand und lege mich neben ihn, sodass wir auf Augenhöhe sind. Dann stelle ich das Bild vor ihn hin.
Chris‘ Finger stupsen vorsichtig gegen das Glas des Fotorahmens und dann fährt er langsam das schwarze Band nach, das die linke untere Ecke ziert. Er sieht kurz zu mir rüber, als müsse er sich versichern, dass ich noch da war und ich schaffte es nicht, die Tränen rechtzeitig wegzuwischen. Chris sah wieder auf das Bild, wippte leicht vor und zurück, als müsse er gerade eine Entscheidung abwägen und dann packte er das Bild fester in seine winzigen Hände und stand schwerfällig auf, bis er von selbst auf seinen zwei wackeligen Beinen stand.
Seit dem Tag fragte er nie wieder nach Albert.

Anne

Eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 2010
Wer immer behauptet hatte, dass das Sterben müssen das schlimmste am Leben sei, war einfach noch nie gestorben.
Als Anne an diesem Mittwoch Morgen die Augen aufschlug, wusste sie mit Sicherheit, dass sie ihrem fleischlichen Dasein entronnen war. Die Sonne kitzelte ihre Nase, die Vögel draußen waren zwar recht leise, aber dennoch zu hören und sie fühlte sich so wohl wie nie. Sie erhob sich langsam aus ihrer ehemaligen Ruhestätte, streckte und reckte sich und warf nicht einmal mehr einen letzten Blick auf ihre zurückgelassene Hülle. Vergangenheit war Vergangenheit und wenn man seine Flügel strecken konnte, sollte man das tun.

Ein neuer Blog

Das ist er also - mein erster Eintrag in diesem funkelnden, neuen Blog!

Noch ist er ganz unscheinbar und unspektakulär aber bald wird er dann doch ein wenig strahlen.
Gefüllt wird er wohl vor allem mit meinen Kurzgeschichten und Ausschnitten aus meinen NaNoWriMo-Romanen (2009 und 2010). Eine Definition dafür, was NaNoWriMo (kurz NaNo oder WriMo) ist kann hier gefunden werden.


Have a nice day
Sue